Berufs- und Bildungsberatung ins digitale Zeitalter führen

Im Projekt Good e-Guidance Stories (GeGS) arbeitet eine internationale Partnerschaft mit zwölf Akteur*innen aus sechs Ländern am Ziel, die Praxis der Berufs- und Bildungsberatung weiterzuentwickeln und zu modernisieren. In Berlin wird das Projekt von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales und der gsub mbH umgesetzt.

Berlin Transfer (BT) sprach mit Brigitte Franz und Martin Hackethal (SenIAS) und mit Dubravko Gršić (GeGS-Projektleiter bei der gsub mbH) über Strukturen der Kooperation im europäischen Netzwerk, digitale Beratung, digitale Inklusion und die Rolle künstlicher Intelligenz.


Zum Projekt: Good e-Guidance Stories (GeGS)

und zum Bericht: „GEGS Transnational Practitioners Meeting in Rom im Juni 2023“


BT: Wie ändert Digitalisierung die Bildungs- und Berufsberatung?

Brigitte Franz: Beraten und Lernen in digitalen Zeiten und Räumen wird breiter, pluraler und damit auch im Zugang offener. Digitalisierung kann dabei als Impulsgeberin für Innovationen verstanden werden, beispielsweise in Bezug auf Methoden und Formen der Beratung, sowie auf die didaktische und operative Gestaltung des Beratungsgeschehens. Mit der Digitalisierung muss Bildungsberatung methodisch-didaktisch (neu) ausformuliert werden, um die verschiedenen Formen der Beratung in ihren Bedingungen genauer darzulegen. Beratungsformate sind dahingehend zu diversifizieren, ob sie persönlich, telefonisch, per E-Mail, per Chat oder per Video stattfinden, und haben eigene Bedingungen, die jeweils fachlich, methodisch und technisch zu operationalisieren sind.

BT: Welche Vorteile bringt Digitalisierung im Bereich der Bildungs- und Berufsberatung?

Martin Hackethal: In der Beratungsarbeit allgemein wie auch speziell in der Beratung zu Bildung und Beruf bietet die Digitalisierung das große Potential, die Reichweite der Angebote zu erhöhen und besser auf die Zielgruppe zuzuschneiden. Es ist für Beratungskundinnen deutlich einfacher und mit weniger Aufwand verbunden eine Webseite aufzumachen und sich für eine Videoberatung anzumelden, als eine Beratungsstelle aufzusuchen und möglicherweise vorher noch einen Termin zu vereinbaren. Dieser niedrigschwellige Zugang sorgt dafür, dass nun auch Personen erreicht werden können, die unsere Beratungsleistung sonst kaum oder gar nicht wahrgenommen hätten, u.a. Menschen mit körperlichen und psychischen Einschränkungen sowie Menschen mit Betreuungspflichten. Gerade für diese Personengruppen bietet die Digitalisierung der Beratungsleistungen eine enorme Chance. Auch sprachliche Barrieren können überwunden werden, indem Beratungskundinnen online gebündelt mittels digitaler Dolmetscherleistungen mehrsprachige Beratungskanäle angeboten werden, die vor Ort nicht an allen Beratungsstandorten vorgehalten werden können. Neben der Reichweite von Beratungsleistungen ist die scheinbar unbegrenzte Verfügbarkeit von Informationen im Internet ein weiterer großer Vorteil der Digitalisierung für die Berufs- und Bildungsberatung. Offene Stellen, Bildungsmöglichkeiten oder weiterführende Beratungsangebote lassen sich online heute viel einfacher und schneller finden als das früher der Fall war.

BT: Wie profitiert die Entwicklung digitaler Beratungsmodelle von der transnationalen Kooperation?

Dubravko Gršić: Große internationale Projektpartnerschaften bieten viele Vorteile und bedingen besondere organisatorische Anforderungen. In der GeGS-Partnerschaft arbeiten zwölf Institutionen aus sechs europäischen Ländern an dem ambitionierten Ziel, den Herausforderungen des immer schnelleren digitalen Wandels im Kontext der Beratung zu Bildung und Beruf gerecht zu werden. Bei einer solchen Kooperation von sowohl öffentlichen als auch privaten Organisationen aus mehreren Ländern kommen sehr viele unterschiedliche Erfahrungen, Sichtweisen, Standpunkte und Kompetenzen zusammen. Man arbeitet mit Menschen zusammen, denen man sonst wahrscheinlich nicht begegnet wäre. Dies führt zu vielen tollen Begegnungen und fruchtbaren Arbeitsbeziehungen. All das entfaltet viel positive Dynamik und Kreativität und einen guten Output an Ergebnissen.

BT: Der digitale Wandel stellt uns zunehmend auch vor Probleme, die tagtäglich neu mitgedacht werden müssen und die womöglich auch eine gewisse Skepsis, wenn nicht sogar Ablehnung generieren können…

Brigitte Franz:  Ein kritischer Umgang mit der Digitalität ist in der Beratung zu Bildung, Lernen, Arbeit und Gesellschaft unumgänglich, beispielsweise in Bezug auf Datenschutz und Datensicherung (Tracking, Cookies, DGSVO, Informelle Selbstbestimmung), sowie auf Teilhabe, Zugang, Nachvollziehbarkeit im digitalen Raum und im Netz/online (online recherchieren und sich informieren, Wissen im Netz, sachliche und/oder manipulative Inhalte und Darstellungen zu unterscheiden) – in Bezug also auch auf die Fähigkeit, Informationen einschätzen, beurteilen und nutzen zu können. Und nicht zuletzt bezogen auf die digitalen Kompetenzen (bzw. Fähigkeiten und Fertigkeiten) der Beteiligten, um die beabsichtigte Handlungsfähigkeit und Entscheidungshoheit in bzw. nach der Beratung überhaupt realisieren zu können.

BT: Beratungsbedürftige Menschen sind oft technisch nicht in der Lage, eine online-Beratung mitzumachen. Inwieweit können digital sehr versierte Beratende helfen?

Martin Hackethal: Die mannigfaltigen Möglichkeiten und die Fülle an Informationen sind für viele Menschen tatsächlich so überfordernd, das Digitalisierung auch ausschließend wirken kann. Sich in der digitalen Welt zurecht zu finden, erfordert entsprechende Kompetenzen ebenso wie auch eine gewisse technische Grundausstattung, auf die viele Menschen, auch im digitalen Zeitalter, nicht zugreifen können. Digitale und Präsenzberatung sind daher so abzustimmen, dass Potentiale ausgeschöpft und gleichzeitig niemand benachteiligt wird. Und da sind kompetente Berater*innen äußerst wichtig, bzw. eine entsprechende Kompetenzvermittlung zu Digitalisierungsthemen, die es den Berater*innen ermöglicht, in einer immer dynamischer werdenden digitalen Welt Schritt zu halten.

BT: Auf welchen Vorerfahrungen basiert die Arbeit des GeGS-Netzwerks?

Dubravko Gršić: Das Projekt Good e-Guidance Stories (GeGS) baut auf zwei Vorläuferprojekten auf: Good Guidance Stories und Good Guidance Stories +. Der Schwerpunkt dieser Projekte war die Entwicklung von Trainingsmodulen für Beratungsfachkräfte, die auf insgesamt fünfzehn Fallstudien basierten, die in den beiden Projekten entwickelt wurden. Jede einzelne Fallstudie entspricht einer der Cedefop[1]-Grundkompetenzen für die Professionalisierung der Beratungsarbeit in der EU. Die Fallstudienmethode ermöglichte es, Erfahrungen aus der realen Welt in Schulungsmodule für die praktische Weiterbildung von Berater*innen einzubringen und diese so für die Weiterentwicklung der beraterischen Fähigkeiten zu nutzen. Die Trainingsmodule wurden in die Ausbildungssysteme der teilnehmenden Länder integriert, um die lokalen Berater*innen auf die spezifischen Herausforderungen vorzubereiten, die mit der Beratung von Geringqualifizierten verbunden sind - Jugendliche oder Erwachsene mit niedrigem Bildungsniveau, ohne oder mit geringer beruflicher Qualifikation und möglicherweise mit mangelnden und schwach ausgeprägten Grundkenntnissen. Das Ziel war es, ihre Teilhabe an der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt zu verbessern, zum Beispiel u.a. durch die Erlangung einer besseren Qualifikation. GeGS baut auf diesen fünfzehn bereits entwickelten Fallstudien auf. Zusätzlich zu denen wurden vier weitere Fallstudien entwickelt, die sich explizit mit den organisationalen und strukturellen Anforderungen der Digitalisierung in den Unternehmen befassen. Alle neunzehn Fallstudien wurden zu Projektbeginn digitalisiert und in ein interaktives Schulungsangebot integriert.

BT: Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern? Welche Vorteile bringt die Kooperation im europäischen Netzwerk in dieser Hinsicht?

Dubravko Gršić: Das Projekt GeGS hat eine dreijährige Laufzeit (02.2021-02.2024). An ihm sind zwölf Partner aus sechs europäischen Ländern beteiligt. Das Projekt hat experimentellen Charakter. Inhaltliches „Herzstück“ der Umsetzung sind die zwei Feldversuche. Einmal die Erprobung eines ganzheitlichen digitalen Schulungsangebots für die Berater*innen, welches von den Partnern gemeinsam entwickelt und auf der digitalen Lernplattform Moodle bereitgestellt wurde. An der Erprobung sind ca. 180 Berater*innen aus den sechs Partnerländern beteiligt. Zweitens steht die Erprobung des Einsatzes von künstlicher Intelligenz (KI) in der Berufs- und Bildungsberatung im Mittelpunkt. Dort testen ca. 90 Berater*innen aus den Regionen Sardinien, Thessalien und Berlin gemeinsam mit bis zu 1.350 jungen Kund*innen die KI-basierte, digitale Beratungs- und Vermittlungsplattform Jobiri. Bei diesem Feldversuch fungieren die Berater*innen und die Kund*innen aus den anderen drei Ländern als Vergleichsgruppe. Die Projektkoordinations- und managementaufgabe übernimmt das europäische Netzwerk MetropolisNet. Die strategische Leitung des Projektes liegt bei den Regionen Sardinien (Italien), Thessalien (Griechenland) sowie Berlin (Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales). Jede Region kooperiert mit einem im Bereich der Arbeitsmarktpolitik etablierten Unternehmen. In Berlin ist das die gsub mbH, in Italien C.I.O.F.S. FP und in Griechenland Dimitra. Mit Rinova Ltd. aus Großbritannien, Ballymun Job Centre aus Irland und Eurocircle aus Frankreich sind drei weitere Partnerunternehmen an der Umsetzung der Projektinhalte beteiligt. Sie alle bringen spezifische Kenntnisse zur Berufs- und Bildungsberatung sowie zu Digitalisierungsprozessen ein. Das italienische Startup Job4U stellt die digitale Beratungsplattform Jobiri zu Verfügung. Das Berliner Institut SÖSTRA Sozialökonomische Strukturanalysen ist für die wissenschaftliche Projektevaluation zuständig.

BT: Wie wird die Effizienz der Arbeit im Netzwerk gemessen?

Dubravko Gršić: Damit sich eine Partnerschaft wie GeGS positiv entwickelt, bedarf es guter Koordination und klarer Strukturen. Das Projekt hat einen Lead-Partner der das Netzwerk koordiniert. Zudem sind die Projektinhalte in einzelne Arbeitspakete aufgeteilt, für die jeweils eine Partnerorganisation führend verantwortlich ist. Die inhaltliche und organisationale Zusammenarbeit erfolgt nach international vereinbarten Standards, die Einvernehmlichkeit und dadurch klare Vorgaben für alle Arbeitsschritte ermöglichen. Das Projekt hat ein internes Controlling und interne als auch externe Evaluation. Bei all dem sind wir zuversichtlich, dass GeGS gerade wegen der Komplexität, die ein so großes Projekt mit sich bringt, erfolgreich sein wird.

BT: Wie gelingt effektive Kommunikation in einem so ausgedehnten Netzwerk? Wie werden innerhalb der internationalen Partnerschaft Erfahrungen und Ergebnisse ausgetauscht?

Dubravko Gršić: Die Zusammenarbeit mit so vielen Partnern aus mehreren Ländern bedeutet, wie gesagt, einen großen Koordinierungsaufwand. Dem steht aber ein beträchtlicher Nutzen gegenüber, indem Erfahrungen und Wissen verschiedener europäischer Perspektiven in das Projekt einfließen. Der europäische Austausch findet zwischen den Projektpartnern aber auch zwischen den an den Feldversuchen beteiligten Berater*innen statt. Sie haben die Gelegenheit, als Teil der ‚Community of Practices‘ auf nationale wie transnationale Austauschformate zuzugreifen. So sind nicht nur Entscheidungsträger*innen aus Verwaltung und von Partnerunternehmen an dem Projekt beteiligt und im Austausch, sondern auch Berater*innen aus ganz Europa. Ein weiterer Vorteil der Zusammenarbeit in einer europäischen Partnerschaft ist, dass durch den Zugriff auf gleich mehrere nationalen Netzwerke die Reichweite für die Verbreitung und Verwertung der Projektergebnisse sehr viel größer ist.

BT: Welche Rolle spielt KI?

Dubravko Gršić:  Jobiri ist eine KI-gesteuerte, digitale Beratungsplattform, die den gesamten Prozess einer Jobsuche abbildet. Die Plattform lernt auf der Grundlage der eingegebenen Daten die Jobsuchenden kennen und hilft ihnen, ihre Karriereziele zu definieren, einen Lebenslauf oder ein Anschreiben zu erstellen, einen Lebenslauf automatisch zu korrigieren und sich mithilfe von Videosimulationen auf Vorstellungsgespräche vorzubereiten. Durch die Vernetzung mit entsprechenden Diensten wie Stellen- oder Bildungsbörsen sammelt und wertet Jobiri zudem tagaktuell Informationen und Kenntnisse über den regionalen Arbeitsmarkt aus und kann Ratsuchenden gezielt passende Stellenangebote oder Bildungsoptionen anbieten. Im Rahmen des GeGS-Feldversuches werden Berater*innen gemeinsam mit ihren Kund*innen Jobiri erproben.

BT: Ersetzt Jobiri die persönliche Beratung?

Dubravko Gršić:  Nein, der persönliche Ansatz in der Beratung soll beibehalten und die Beratungsarbeit selbst durch den Einsatz eines digitalen Tools ergänzt und optimiert werden. Beispielhaft sollte die hybride Beratung so erfolgen, dass beim ersten Termin Berater*innen und Kund*innen gemeinsam ein Beratungsziel und einen Aktionsplan vereinbaren. In der Zeit zwischen den einzelnen Terminen können die Kund*innen Jobiri als digitale Beraterin mit potenziell allen notwendigen Beratungsangeboten bei der Verfolgung der im Aktionsplan vereinbarten Ziele und Aufgaben nutzen. Bei den persönlichen Terminen selbst werden die Ergebnisse dieser eigenständigen Arbeit der Kund*innen dann ausgewertet und bei Bedarf nachjustiert. So kann bei begrenzten zeitlichen Ressourcen der Berater*innen gewährleistet werden, dass einerseits die Kund*innen trotzdem durchgehend Beratung erfahren können, und andererseits können sich Beratende während der persönlichen Termine auf das Wesentliche konzentrieren und so effizient und effektiv beraten. Die Plattform selbst kann durch eine Rollenwahl bei der Anmeldung sowohl spezifisch aus der Perspektive der Berater*innen als auch aus der Perspektive der Kund*innen genutzt werden. Somit können Berater*innen je nach Vereinbarung bei Bedarf die Arbeitsfortschritte der Kund*innen nachverfolgen und unterstützen. Darüber hinaus versorgen die vielfältigen Funktionen und das Angebot der Plattform beide Seiten mit neuesten Kenntnissen und Informationen des regionalen Arbeitsmarktes.  Ziel des Feldversuches ist es im Wesentlichen, festzustellen, ob auf KI-Technologie gestützte hybride Beratungsprozesse tatsächlich auch einen Mehrwert in der Beratungspraxis darstellen können.

BT: Werden die ausgearbeiteten Ergebnisse unmittelbar in die Beratungspraxis eingeführt? Und werden sie auch auf andere Bereiche übertragbar sein?

Martin Hackethal: Das Projekt ist ergebnisoffen gehalten. Es ist stark davon auszugehen, dass die erworbenen Kompetenzen, die die Berater*innen im Rahmen der Erprobung der digitalen Lernplattform erwerben, die Beratungspraxis in den Projekten dauerhaft positiv beeinflussen.  Ob der Einsatz einer digitalen Lernplattform mit Fallbeispielen zur Kompetenzvermittlung oder gar die Nutzung KI basierter Software dauerhaft in die Beratungsangebote zu Bildung, Beruf und Arbeit implementiert werden, kann zu diesem Zeitpunkt nicht gesagt werden. Das hängt auch stark von den Erkenntnissen ab, die aus den Feldversuchen gewonnen werden. Letztlich steht vor allem der Erkenntnisgewinn im Vordergrund, auf dessen Grundlage Empfehlungen erarbeitet werden, die sicherlich auch für Beratungsangebote aus anderen Bereichen, etwa in der Migrations- und Sozialberatung, relevant sind.

Informationen über das Projekt: https://goodeguidance.eu/de/

[1]Das Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (Cedefop) ist das Referenzzentrum der Europäischen Union für Fragen der beruflichen Bildung. Es stellt Informationen und Analysen zu Berufsbildungssystemen sowie Politik, Forschung und Praxis bereit. Cedefop entwickelte für die Professionalisierung der Beratungsarbeit in der EU einen Kompetenzrahmen mit insgesamt neunzehn Grundkompetenzen.

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